Über das Vergessen

Name:  Nina Ditscheid – Dozentin

Kurs:  Reportage Fotografie – Identität in Zeiten des ISMUS

Titel:  Über das Vergessen

Die Arbeit setzt sich mit der Rolle und der Auseinandersetzung eines Einzelnen mit der eigenen Identität auseinander, welche sich in der Gesellschaft und ihren Anforderungen immer wieder neu reflektiert und definiert.

Die eigene Identität setzt sich zusammen aus dem persönlichen Erscheinungsbild, der individuellen Biografie, aus Erinnerungen, dem gesellschaftlichen Dasein, Werten und Wünschen für die Zukunft. Eine Identität ist für andere und durch sich selbst entschlüsselbar, indem sie unverwechselbar und erkennbar ist.
Während des Prozesses der Entschlüsselung und Erkennbarkeit der Identität, ist der Mensch ständig auf der Suche nach Feedback, um Bestätigung zu empfinden. Er strebt danach, sich in der ihm umgebenden Situation zurecht zu finden und einzuordnen. Gelingt dies, so kann er sich seiner Selbst sicher sein.
Politik, Gesellschaft und die Präsenz in digitalen Medien sind ebenso Projektionsfläche, wie das direkte Umfeld. So kann ein natürlicher Prozess der Reflektion und Neuordnung durch Krankheit, wie der Demenz, oder durch einen übertriebenen Drang der Anerkennung und Unverwechselbarkeit dazu führen, individuelle Wesensmerkmale soweit zu verschlüsseln, dass die erkennbare Identität in Frage gestellt wird. Die Identität erscheint nebulös: Wer bin ich?

Langfassung bitte folgendes ergänzen: Gefordert ist hohe Flexibilität, Wandelbarkeit und Belastbarkeit. So wird der Einzelne permanent überprüft und unsere Identität wird hinterfragt. Durch diese Überprüfung und die ständige Auseinandersetzung mit neuen Einflüssen, ist er angehalten sich in seiner Umgebung neu zu sortieren und seine identitäre Position und Rolle zu finden. Ist die eigene Identität nicht fähig, sich einzuordnen oder anzupassen, so kann es dazu führen aus dem Raster und somit aus dem umgebenden System zu fallen.

In dem Moment, in dem das gewohnte Umfeld, Wertevorstellungen, Teile der Erinnerung, Perspektiven umbrechen oder wegfallen, muss neu geordnet und sortiert werden. Es entsteht die Möglichkeit, sich neu aufzustellen. Bei einer Krankheit, wie der Demenz ist das anders: Ich bin durcheinander.

Ich befinde mich in einem Einfamilienhaus mit Garten, in Duisburg. Es ist eine gepflegte und schöne Gegend. Eine bescheidene und zufriedene Familie mit drei Kindern hat hier gelebt. Die Kinder sind irgendwann der Reihe nach ausgezogen, um ihr eigenes Leben zu gestalten. Das Elternpaar hatte ein gesellschaftlich gutes Leben, mit vielen Freunden, eine enge Bindung zum Schwimmverein um die Ecke und war immer sehr aktiv. In ihrem Haus hatte jeder seine Rolle. Sie übernahm den Haushalt und war somit die Fürsorgende und hielt in ihrem -Reich- alles zusammen und in Ordnung. Sie war lebensfroh, schlagfertig und sie legte Wert auf gute Tischmanieren.

Ihre Demenz begann langsam und auch der Verlauf war schleichend. Doch der Haushalt blieb stets sauber und geordnet. An den kleinen alltäglichen Ritualen, wie dem täglichen Mittagsschlaf oder nachmittäglichen Kaffee und Kuchen, wurde weiterhin festgehalten. Ihr Ehemann und diese Rituale hielten ihr kränkelndes Wesen zusammen.

„Sie war eine große Kämpferin darin, am gewohnten Leben fest zu halten“

Als ihr geliebter Ehemann mit 92 Jahren verstarb, sagte er, er hätte ein glückliches und gutes Leben gehabt. Ihre Sicherheit, die sich unter anderem durch ihn definierte, brach nun weg. Die Aufgaben fehlten, Herausforderungen gab es fast keine mehr. Die Ordnung konnte sie nicht komplett wieder herstellen oder erneuern.

„Sie brauchte eine Aufgabe und bedauerte, dass sie zu oft rumsäße und nichts zu tun hätte.“

„Für uns {Geschwister} war es klar, dass sie ihre Identität so nicht mehr leben konnte.“

Das Haus war kein Mittelpunkt mehr. Die Dinge, die sich darin befanden, waren plötzlich fremd. Daraus entstanden Frustration, Ängste und Sorgen, die sich gelegentlich in Wut und Unverständnis äußerten. Im nächsten Moment war wieder alles friedlich, verständlich und real. Das Haus und ihren Haushalt musste sie verlassen.

„Sie hat auf den Verlust ihres Mannes und des gewohnten Umfelds mit starken Ängsten und großer Verzweiflung reagiert.“

„Sie hat bis zum Schluss manierlich gegessen, hatte in den guten Stunden Humor und an Schlagfertigkeit hat sie noch gewonnen.“